Für Hans Blickensdörfer

Jetzt, liebe Radsportfreunde, kommt die Tour endlich in Fahrt. Endlich geht es ihn die Berge. In den Bergen gräbt Leducq das Kriegsbeil aus. Als es in die Berge geht, wachsen Duboc Flügel. Als es in die Alpen geht, spuckt Ocana Blut am Galabier. Als Merckx am ersten Anstieg den Kopf dreht, huscht Zufriedenheit über sein Gesicht - weil er keinen Zufriedenen mehr sieht. Nur verzerrte, schweißgebadete Gesichter. Virenque beißt auf die Zähne. Thevenet verlangt klare Abmachungen. Junkermann macht am Izozard ein paar Versuche. Van Impe klettert wie eine Gemse, fährt aber ab wie ein Landbriefträger. Einen van Impe, das schwören die Leute an der Straße, hätte der alte Poulidor in Grund und Boden gefahren. Aber Poulidor ist längst nicht mehr der Alte und Simoni tritt die Rampen als schleppe er Steine. Der Tourmalet wird tatsächlich zum Schicksalsberg für Lemond. Thuraus Drama beginnt beim Aufstieg zum Mont Ventoux. Ein halb ohnmächtiger Pelissier muß abreißen lassen. Geminiani hat schlechte Beine, Ullrich, sagt Ullrich, hat gute Beine. Zülle ist schon mit genageltem Schlüsselbein zur Tour gekommen. Rominger wäre lieber gleich weggeblieben und Altig, den sie die rollende Apotheke nennen, sehnt sich nach der Ebene wie die Forelle nach den klaren Bächen. Doch was macht Bobet? Bobet tut, was er immer tut. Bobet liegt in Lauerstellung, nun da sich das Feld wie ein aufgeblasener Lindwurm durch die engen Gassen von Briascon windet. Schon beim ersten Antritt des göttlichen Coppi platzt das Verfolgerfeld wie eine warme Leberwurst und Chiapucci beißt sich wie ein wütender Spitz an den Hinterrädern der Favoriten fest. Nur Pantani hat sich wieder nicht gezeigt.

Am Solour beträgt sein Vorsprung 2:20 Minuten auf das Trio Kuiper/The-venet/Zoetemelk. Armstrong läßt sie einfach stehen wie Anfänger. Galera, der spanische Bergfloh, scheint den Aubisc hinaufzufliegen, Bogard kann noch einmal kontern, aber erster auf dem Gipfel ist wieder einmal Bahamontes. Doch der Adler von Toledo ist kein Glückskind. Erst als zehn seiner Konkurrenten an ihm vorbeiradeln, scheint er sich zu entsinnen, warum er eigentlich auf diesen schönen Berg gefahren ist. Koblet ist längst ausgeschieden, Kübler sieht nicht gut aus, und Charly Gaul, der kompakte Mann aus Adliswill, der in der eisigen Kälte des Hochgebirges schon mal einen Reifen mit den Zähnen von den Felgen reißt, wenn die klammen Finger versagen, Charly Gaul, ein Selbstzerfleischer wie der Schweizer Schär, sitzt mit einem Defekt am Straßenrand und weint.

Moser hat erst am letzten Stich hinauf nach l´Alp d´Huez den Anschluß verloren. Aber noch ist nichts verloren. Denn nun haben sich 22 Männer aus dem Schutz des Waldes herausgetreten und das scheußliche Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Die Folgen sind katastrophal. Junkermann packt der Hungerast, Jannsen bricht ein und das gelbe Trikot hängt an einem seidenen Faden. Dabei hat die Tour der Leiden noch gar nicht richtig begonnen.

Denn, liebe Radsportfreunde, jetzt überstürzen sich hier die Ereignisse. Jetzt steht alles auf Messers Schneide. Jetzt rasen sie auf der anderen Seite hinab, als ob sie den Berg, den sie so mühsam erklommen haben, fliehen würden wie ein scheußliches Ungetüm. Jetzt preschen sie Kopf an Kopf ins Tal der Etsch und gleich wieder hinauf nach Racagort. Indurain ist also doch keine Maschine. Riviere ist schwer gestürzt, der schwer angeschlagenen Merckx gibt das Rennen auf, und dass Hinault genau hier die Rechung bezahlt, ist natürlich eine der unvorhersehbaren Folgen des Kopfsteinpflasters. Damit ist die Tour praktisch entschieden. Sechs Tage vor der Champs-Elysée ist das der Sieg. An seinem fünften Tour-Erfolg gibt es keine Zweifel. Hier hat er die Tour endgültig eingefahren. Niemand zweifelt daran, dass heute die Herrschaft des Kannibalen endet. Aber soweit sind wir noch nicht.

Am Ende gewinnt der Mann aus Katalonien die Tour auf einem Bein. Delgado hätte auf den Alpengipfeln sogar ein Eis essen können. Als Pantani es geschafft hat, befällt ihn ein Rausch unbändigen Triumphes. Tief unter ihm müht sich, von wallenden Nebeln verdeckt, das Häuflein der hoffnungslos abgeschlagenen zur Passhöhe. Thevenet hat drei Minuten auf Fignon verloren. Bartoli hat längst resigniert. Der kranke Anquetil tut dem Champion nichts. Bei Polletier war es Doping. Doping, liebe Radsportfreunde, Doping ist ein häßliches Wort. Aber à la bonneur, solche Abstände hat man bei der Tour schon lange nicht mehr gesehen.

Michael Quasthoff