Aus der Serie: Gott und die Welt (1)

Ich saß am Schreibtisch meines Büros für Ermittlungen aller Art, blies Rauchringe in die Luft und wartete auf den Sechsuhrgong der Marktkirche. Eine Grundregel im Ermittlungsgewerbe heißt nämlich: Kein Bier vor 18 Uhr. Der Trägheitsfaktor, Sie verstehen. Zwei, drei Schnäpse, kein Problem, aber Bier, wie gesagt, nie vor 18 Uhr. Dann klingelte das Telefon, fast gleichzeitig schlug die Turmuhr. Ich nahm den Hörer ab, sagte: "Bleiben Sie bitte einen Moment dran" und schlurfte ich zum Kühlschrank, um mir ein Jever zu holen.

"Sind Sie noch dran ?", fragte ich in den Hörer.

"Hier spricht Gott. Und den läßt man gemeinhin nicht warten. Beweg Deinen Arsch unverzüglich rüber ins Maritim". Es war ein krächzender Tenor, dem irgendetwas schwer im Magen zu liegen schien. Ich legte auf. Vielleicht etwas vorschnell, schließlich wird man nicht jeden Tag von Gott angerufen. Aber Klienten, die pampig werden, passen mir nicht. Fünfzehn Minuten und drei Jever später stand der Mann, der sich Gott nannte, in meinem Büro. Es hatte nicht geklingelt, ich hatte den Summer nicht betätigt, weiß der Himmel, wie der Alte das fertig gebracht hatte. Er verriet es mir nicht. Stattdessen plumpste er auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch und wuchtete ein paar Texasstiefel auf die Platte, dass es staubte.

Dann zog er aus den Taschen seiner abgewetzten Lederjacke eine Flasche Bourbon und genehmigte sich eine Rutsche, die unsereinem für zwei flotte Abende gereicht hätte. Gott sah müde aus und nicht ganz nüchtern. Er rülpste laut.

"Amen", versuchte ich das Eis zu brechen.

Der Mann, der sich Gott nannte sagte nichts. Sondern schob einen zerfledderten Zettel über den Tisch. Er war mit winzigen, Robert Walser-haften Hieroglyphen vollgekritzelt. "Dies ist mein Testament", sagte Gott. "Lies".

Ich gab mir Mühe. Der Inhalt entpuppte sich als wüste und grammatikalisch recht unorthodox zusammengesampelte Litanei, die - grob gesagt - ausdrückte, dass Gott mit vielem nicht mehr klarkam. Denn er gab an, systematisch und seit Jahren verfolgt zu werden. Vor allem von falschen Freunden und Propheten, die seinen Namen in den Dreck gezogen, seine Werke verhöhnt und ihm damit das Leben zur Hölle gemacht hätten. Seine Karriere wäre im Grunde völlig ruiniert. Die ganze Welt hätte sich verschworen, um ausgerechnet ihn, Gott, fertig zu machen. Jetzt aber habe er genug und sei entschlossen, abzurechnen. Kurzum, Gott stehe vor einem großen Comeback. Der letzte Satz war ein Menetekel: "Gott ist ein Künstler, und läßt keinen Scheiß mit sich machen."

"Starker Tobak", sagte ich.

"Worauf Du einen lassen kannst", brummte Gott und griff wieder zum Bourbon.

Ich fragte ihn, wie Gott, der Allmächtige, in so einen Schlamassel geraten konnte.

"Künstlerpech, falsche Berater, Frauen, Alkohol. Ich hab mal ein paar Songs drüber geschrieben."

"Songs?", Ich sah ihn ratlos an.

"Yeah, Heartbreak Hotel, Twist and Shout, Let it bleed, Stagger Lie, Help, Teenage Rampage, Man in Black, Please Mrs. Henry... und solche Sachen."

"Please, Mrs. Henry` ist von Bob Dylan?", warf ich ein.

"Dylan ist Gott und Gott bin ich", antwortete der Mann, der sich Gott nannte, ohne aus dem Konzept zu kommen. Und wie zum Beweis sprang der Alte auf den Stuhl, warf sich in Positur und näselte:
"Well, I´ve already had two beers/ I´m ready for the broom/ Please, Missus Henry, won´t you/ Take me to my room? /I´m a good ol´boy"

Das klang tatsächlich wie der alte Dylan. Danach sang Gott noch ein paar Beatles-Song, croonte sich durch das Hauptwerk von Aaron Neville, ehe er sich mit einer schmissigen Version von "I´ can get no satisfaktion" verabschiedete. Denn so plötzlich wie er begonnen hatte, war der Spuk vorbei und der Mann, der sich Gott nannte, von der Bildfläche verschwunden. Auf dem Schreibtisch fand ich drei lange graue Haare und einen Zettel, auf dem in winzigen, Robert-Walser-haften Hieroglyphen geschrieben stand:

"Der Zug geht ab zum Himmel, der Zug / Der Zug geht ab zum Himmel, der Zug / Der Zug geht ab zum Himmel Samstag, um 18.07 Uhr / Nur wer gerecht und heilig ist, darf mit nach oben. Finde die Gerechten und reserviere ein erste Klasse Abteil.
Mit besten Grüßen von Gott alias Jonny Cash"

Gottseidank ließen sich die beiden nie wieder blicken. Trotzdem beschloß ich, fortan mein erstes Bier nicht vor 20 Uhr zu öffnen.

Aus der Serie: Gott und die Welt (2)

Es war einmal ein armer Mann. Er besaß eigentlich gar nichts. Kein Haus, kein Auto, keinen Fernseher. Nicht einmal eine Frau, die ein Haus, einen Fernseher oder ein Auto ihr eigen nannte. Denn solchen Frauen imponieren gemeinhin nur Männer, die zwei Häuser, drei Autos und vier Fernseher besitzen. Das einzige, was der arme Mann im Überfluß hatte, war Durst. Und zwar einen so großen, allzeit mordsmäßig brennenden, im Grunde also unlöschbaren Durst, daß jeder Versuch, diesen Durst zu lindern, ihn immer tiefer in die Armut riß. Eines Tages stand unser Mann in einer finsteren Schankwirtschaft und wuchtete Glas um Glas schäumenden Gerstensaft die Kehle hinunter. Wie er die Biere bezahlen sollte, wußte er nicht. Denn sein letztes Geld hatte er gestern vertrunken. Und so bestellte er verzweifelt noch "ein Großes", ahnend, daß der Wirt, der die Sauferei unseres Mannes seit Stunden argwöhnisch auf Deckeln bilanzierte, mit der Rechnung kein Pardon kennen würde. Prompt rief der Wirt: "Eins noch, dann wird abgerechnet." Jetzt ist eh alles egal, dachte der arme Mann, und bestellte einen Doppelkorn.

Da ging auf einmal die Tür auf und Gott trat in den Schankraum. "Ja, der liebe Gott", rief der Wirt, "schön daß Sie mal wieder vorbeischaun." Auch an den anderen Tischen begrüßte man den Neuen wie einen alten Bekannten. "Grüß Gott", schallte es durch den Raum, "Gott zum Gruß" und "Vater unser, setz Dich her". Staunend musterte der arme Mann den Alten, der so gar nichts besonderes an sich hatte. "Ist das wirklich Gott, das höhere Wesen?", fragte er den Wirt. "Sicher", antwortete der. Da kam unserem Mann eine Idee. Er stellte sich in Positur und sagte laut und vernehmlich: "Gott ist tot". Der Greis wurde aschfahl. "Wer hat das gesagt?", schrie er. "Nietzsche, wenn ich mich nicht irre", meldete sich unser Mann. "So, so, der Herr Nietzsche. Soll ich dir mal sagen, wo der jetzt ist, der Herr Nietzsche", schnaubte Gott. "Nicht nötig", sprach unser Mann. "Beweisen Sie lieber, daß Sie Gott sind." - "Klasse, ein flotter Gottesbeweis, das hatten wir schon lange nicht mehr", riefen die Gäste. "Na, meinetwegen, was soll ich tun?", brummte der Greis und krempelte die Ärmel hoch. "Wenn ich heimkomme", sprach unser Mann, "möchte ich ein Haus, einen Fernseher, ein Auto und eine ansehnliche Frau vorfinden, die meine Rechnungen bezahlt." - "Wenns weiter nichts ist", meinte der Herr achselzuckend, schnippte mit dem Finger und wendete sich seinem Pils zu. Und tatsächlich. Wo einst sein Sozialwohnungsquader gedräut hatte, stand ein Bungalow, vor der Garage glänzte ein Benz und am Pool rekelte sich eine üppige Blondine und verfolgte auf dem nagelneuen Großbildschirm das "Wort zum Sonntag". "Vergelt´s Gott", dachte der arme Mann und leerte an der Hausbar noch etliche Gläschen auf das Wohl des Herrn.

Typologie des Theaterfreundes
Folge 1: Der Blasenschwache

Ein Mann namens Zirner legt großen Wert auf die Feststellung, daß er nicht nur, sondern auch im Theater leide. Er leide also, und sage dies in aller Unmißverständlichkeit, nicht am deutschen Sprechtheater. Genauso wenig wie am deutschen Film, an der deutschen Literatur, an der deutschen Küche oder am allgemeinen Sinnverlust. Ganz im Gegenteil. Wenn es jemanden gibt, der den Begriff "Kulturmensch" noch in quasi Gadamerscher Spannweite für sich reklamieren könne, dann Zirner. Er räume allerdings ein, dass es oft ganz anders aussehe, ja, dass es ihn gemeinhin gleich mehrmals pro Vorstellung und bisweilen schon vor Beginn derselben panikartig heraustreibe aus dem von Zirner doch grundsätzlich so geliebten Theater. Zutiefst demütigend sei diese Divergenz zwischen Schein und Sein, denn selbst im Kreise Wohlmeinender schwinde zunehmend die Bereitschaft, seine Bekenntnisse zur Bühne, zum Ausdruckstanz, zum europäischen Kunstfilm, ja, zum abendländischen Wertekanon überhaupt, für voll zu nehmen. Dabei sei das Ganze lediglich ein von ihm weiß Gott nicht zum erstenmal berichtigtes Mißverständnis, genauer gesagt ein chronischer Blasenkatarrh. Und ein Blasenkatarrh ist ein Blasenkatatharrh, ist ein Blasenkatatharrh, ist ein Blasenkatarrh, um mit Gertrude Stein zu reden: Mithin eine schmerzhafte, indeterminable und äußerst lästige Angelegenheit. Vor allem für Zirner. Das sollte eigentlich auch dem hartleibigsten Sitznachbar begreiflich sein. Doch er habe erfahren müssen, daß Hinweise auf die Gründe seiner temporären Absenz, all die Einlassungen und Entschuldigungen, das Anführen abgewogener Argumente sowohl wie die verzweifelt vorgetragene Polemik, ja, selbst das Referieren medizinischer Fachliteratur nebst dem schon mehr als kopf- und heillosen Angebot, die Analyse einer Urinprobe im engeren Bekanntenkreis öffentlich zu machen, nichts, aber auch rein gar nichts gefruchtet hätten. Vielmehr sei es so, je vehementer der Harn und damit die Rechtfertigungen aus ihm herausdrängten, und das täten sie angesichts seiner zerrütteten Nerven mittlerweile bei jeder unpassenden Gelegenheit, desto rasanter verfalle die Zirnersche Gesamtreputation.

Und so seien die Ereignisse gleichsam schicksalhaft auf jenen traurigen Tiefpunkt zugesteuert, von dem er nun berichten wolle und müsse. Man gab Shakespeares "Wie es Euch gefällt". Anfangs sei der Abend fast störungsfrei verlaufen. Abgesehen von einem leichten Ziehen in der Blase. Das aber habe Zirner, der sich zwei Tage lang jeder Nahrungs- und Getränkeaufnahme enthalten hätte, durch einfache Kontraktion der Schließ- und Oberschenkelmuskulatur in Schach gehalten. Damit wäre es jedoch in der 7. Szene des 2. Aktes vorbeigewesen, just als der Höfling Jacques gerufen habe "...dann werden wir von Stunde zu Stunde faulen und faulen und dann ist das Märchen alle". Bei diesen Worten sei er von dem auf der Bühne versammelten Personal eindeutig und in schamlosester Weise fixiert worden, schwört Zirner, was ihm hinterher natürlich wieder niemand hätte glauben wollen. An die Folgen erinnere er sich jedoch nur noch mit Grausen: in der Harnblasenschleimhaut habe ein solches Bohren, Bimsen und Brennen angehoben, daß erst Zirners Unterleib, dann das Gesicht, am Ende der ganze Mensch irgendwie verrutscht und im Gestühl buchstäblich wie von einer höheren Gewalt zusammengefaltet worden sei. All dies hätte man auf den Plätzen neben ihm mit höchstem Mißfallen zu Kenntnis genommen, diesem auch böse zischend und handgreiflich Ausdruck verliehen und zwar mit so geballter Infamie, dass die Flucht auf die Herrentoilette ihm nicht einmal mehr eine vorübergehende Erleichterung verschaffen konnte. Obwohl er dort zwei Kulturredakteure getroffen haben will, die mit dem Leeren eines Taschenflakons beschäftigt gewesen seien, diese Tätigkeit aber sofort unterbrochen hätten, um ihm, Zirner, ein Urteil über die Geschehnisse im Saal abzunötigen, weil ihnen als professionellen Kritikern zu diesem ganzen Affentheater längst nichts mehr einfiele.

Zirner, sagt Zirner, habe sich nur unter Aufbietung der allerletzten Kräfte in eine Naßzelle retten können, wo er regelrecht zusammengebrochen sei. Gepeinigt von Scham, Weltekel und Harnblasenbrand habe er schluchzend auf der Klobrille gehockt und sich erst am Ende der Vorstellung wieder im Foyer unter seine Bekannten gemischt. Dass man sein Bedauern dortselbst nicht nur schlicht ignorierte, sondern ihn obendrein des Banausentums bezichtigte und mit üblen Adjektiven übergoß, um ihm schlußendlich sogar den abschließenden gemeinsamen Schoppen zu verweigern, nun, sagt Zirner, damit habe er fast schon gerechnet. Verzeihen könne er das nie.

Typologie des Theaterfreundes
Folge 2: Der Autor

Aus der Landeshauptstadt H. wird berichtet, ein Mann sei nach der Theatervorstellung statt zum Ausgang hinab, hinauf auf den Schnürboden gestiegen, habe dort unbemerkt bis zur vollständigen Räumung des Gebäudes ausgeharrt und gegen Mitternacht Feuer gelegt. Und zwar so gründlich, dass die ohne Verzug anrückenden Löschzüge den ganzen Block, also das Schauspielhaus, samt Cumberlandscher Galerie und angrenzendem Kunstverein, alsbald aufgegeben und ihre Schläuche ostwärts in Richtung Thielenplatz geschwenkt hätten, um den Übergriff der Flammen auf das gut besuchte Paulaner Bräu zu verhindern. Das Staatsschauspiel indes wäre bis auf seine Grundmauern niedergebrannt, was der vormals imposanten Front der Prinzenstraße eine deprimierend kariöse Anmutung verliehen habe. Selbst Oberbürgermeister Herbert S., der während einer sehr langen Amtszeit nur ein einziges Mal, und zwar anlässlich der Einweihungsfeier im Staatsschauspiel gesichtet worden, dem Personal aber bis heute durch seine feuchte Aussprache und die im Minutentakt wiederholten Erkundigung, was hier eigentlich los sei, erinnerlich geblieben ist, selbst Herbert S. sprach von einer "unersetzlichen baulichen wie kulturellen Lücke".

Für Aufsehen quer durch die Feuilletons der Republik sorgte allerdings weniger dieses Statement, als vielmehr die baldige Ingewahrsamnahme eines jungen aufstrebenden Autors namens G., dessen Stück "Treibsand oder der Anfang vom Ende des Universums" just am Abend der Katastrophe im Schauspielhaus zur Aufführung gekommen war. G. gestand ohne Federlesen. Er habe, so rechtfertigte sich der Brandstifter, sein Stück einfach nicht mehr sehen wollen. Nicht, daß die Inszenierung schlecht gewesen wäre. Im Gegenteil. Noch nie hätte der Autor G. Schauspieler mit solcher Hingabe an einem Text arbeiten sehen (und er habe trotz seiner Jugend wahrlich schon einiges mit ansehen müssen), das Bühnenbild sei einfach wunderbar und die Regie mehr als stimmig gewesen. Selbst die Striche, so schmerzlich sie einen Autor immer wieder ankämen, müsse man objektiv betrachtet durchaus angemessen nennen.

Es habe ihn ja gerade die unheimliche Präzision des Spiels, die Wahrhaftigkeit des Ausdrucks und eine ihm bis dato nicht möglich scheinende, aber im Laufe der Aufführung ins quasi Überirdische wachsende Schönheit seines Textes wie ein Keulenschlag getroffen. Ab dem dritten Akt sei G. schließlich überzeugt gewesen, daß nichts, was ihm jemals auf einer Bühne oder im richtigen Leben widerfahren, nichts, was er fürderhin denken oder schreiben werde, sei es in Prosa oder in Versen, daß tatsächlich nichts, und wenn er, G., sage nichts, meine er jenes metaphysisch ausweglose, von Sartre erstmals im Jahre 1938 so schrecklich präzise ausgedeutete NICHTS, daß also rein GARNICHTS vorstellbar ist, was an die Vollkommenheit dieser Aufführung heranreichen könne.

So habe er beschlossen, Ort und Zeit seines unsagbaren spirituellen Glücks durch Feuerlegung zu transzendieren, das Stück damit vor den Niederungen des Aufführungsbetriebes zu bewahren und seine Person in die Obhut der Strafvollzugsbehörden zu geben, denn er wolle lieber bis ans Lebensende Tüten kleben als Gefahr laufen, unter sein Niveau zu sinken. Es gab nicht wenige Theaterkritiker, die ihn ob solcher radikaler Reden für den Büchnerpreis nominieren wollten. Das Landgericht in H. blieb davon unbeeindruckt. Nachdem man G. drei weitere Theaterbrände in Angouleme, Modena und Cottbus nachweisen konnte, wurde er in die Nervenklinik Ilten überführt, wo er, so versichern die betreuenden Ärzte, bis heute tatsächlich nichts außer Ansichtskarten geschrieben hat.

Michael Quasthoff