John Coltrane und Jimi Hendrix: Searchers never coming home

"Die auferstanden sind im Geistergewand des Jazz im Schatten der goldenen Blasorchester (...), bliesen des nackten Geistes Amerikas Lechzen nach Liebe in einem Eli-eli-lama-asabthani-Saxophonschrei, der die Städte bis aufs letzte Radio erzittern ließ"


Allen Ginsberg, "Howl"

Sie nannten ihn Train, weil er spielte wie ein rasender Zug. Sie schrieben, er spiele sein Horn, "als ob er es in Stücke blasen wolle". Manche meinten, mit Trains Musik "könntest Du an einem klaren Wintertag jede Wohnung heizen". Andere schworen, ihre überirdische Schönheit bringe "schwache Herzen und korrupte Gewissen dazu, aus dem Fenster zu springen." Nun, ich habe nie jemanden springen sehn. Aber Train schaffte sie alle. Meinen Vater, meine Mutter, Musiklehrer Grube, meinen älteren Bruder und seine plateaubesohlten Headbanger aus der 10 A. Sie alle haßten Train und ich liebte ihn dafür. Ich war 15 und er war mein Gott. Ich huldigte ihm täglich mittels einer alten C-Klarinette, die ich auf dem Schrottplatz gefunden hatte. Es war ein schäbiges Instrument. Die Klappen deckten nicht, das Holz war zerkratzt, das Mundstück zerkaut wie ein alter Pfeifenstil. Man brachte nicht viel mehr heraus als ein kläglich dürres aber durchdringendes Fiepen. Mir machte das nichts. Ich legte Trains "Live At The Village Vanguard" auf den Plattenteller, hielt das Instrument in Habachtstellung und wartete. Auf den Opener "Naima" und auf Opa Schneiderath, den alten Stalingradkämpfer aus dem Souterrain. Wir hatten unseren Einsatz, wenn Pharao Sanders kreischendes Obertoninferno in Trains majestätische Melodiebögen fräste. Es war ein denkwürdiges Duett. Ich fiepste mir die Seele aus dem Leib und Schneiderath brüllte das Treppenhaus zusammen. Und zwar mit den Worten: "Wir sind hier nicht bei den Hottentotten." Er brüllte das mehrmals und mit schwellendem Diskant. Meistens bemerkte Ich ihn erst, wenn Poli und Zisti unsere Haustür im Stile Cozy Powells mit dem Gummiknüppel bearbeiteten. Die Anzeige wegen Ruhestörung quittierte mein Vater abends routiniert mit einer Kopfnuß. Dann schloß er meine Klarinette für eine Woche weg. Ich aber wußte, ich war auf dem richtigen Weg.

John Williams Coltrane, geboren am 23. September 1926 in Hamlet/North Carolina, benutzt ein Otto Link Mundstück Nr. 5 mit mittlerer Öffnung und mittelkurzer Bahn und ein hartes Blatt der Stärke vier. Als Hiroshima brennt, spielt er den Blues in den Bands von John Webb und Big Maybelle. Er tourt mit Eddie Cleanhead Vinson, Earl Bostic und Johnny Hodges. Er redet selten und übt ununterbrochen. Mit fünfundzwanzig kennt er jeden Schuppen zwischen Chikago und New Orleans und ist der beste Freund von Sister Heroin. Er wird von Dizzy Gillespie gefeuert und von Miles Davis verprügelt, "weil er immer `high´ ist, zu spät kommt und auf der Bühne einschläft". Monk sagt ihm: "Mann, wenn einer so wie Du Saxophon spielt, braucht er sich das nicht gefallen zu lassen". Train lässt es sich gefallen, bis er raus hat wie Miles auf modalen Scalen elegant an den Akkorden vorbei improvisiert. Im Jahre 1957 empfängt er die Gnade des Herrn. Der Herr spricht: "John Williams Coltrane, vergiß den Blues und suche das Göttliche im Klang des Universums, und wenn Du ES gefunden hast, preise Es und künde davon meinem Volke".

Seitdem ist er clean und niemand hat ihn mehr lachen sehen. Sein Ton wird "gepreßt, schneidend, grell und trocken". Er spielt Balladen von schmerzender Schönheit, er spielt "Sheets of Sounds" (Ira Gittler), rasende Noten wie splitterndes Glas, und zertrümmert das Rhythmusgerüst des Bop, er spielt "kompromißlos" (J.E. Behrend), "oft brutal und häßlich" (Bob Weingart), er spielt einfach "abgedreht" (Miles Davis). Aber das John Coltrane-Quartett ist die heißeste Combo, die man seit Amstrongs "Hot Five" gesehn hat. Train, Tenor und Sopranosax, Jimmy Garrison, Bass, Elvin Jones, drums, McCoy Tyner, piano: eine Besetzung wie in Stein gemeißelt. Mit ihnen macht Train die Nile Rogers Walzernichtigkeit "My Favourite Thing" zu einem Klassiker. Nach dem hymnischen "Love Supreme" liegen ihm die Hippies zu Füßen und bei Tower Records in der 15th Straße läßt ein junger Rhythm & Blues Gitarrist namens Jimi Hendrix erstmals Dylan links liegen und kauft eine Coltrane-Platte. Im Innenteil findet sich ein Poem von Train, dessen letzte Worte lauten: "Erhebung, Eleganz, Begeisterung". Der Linkshänder aus Seattle wird sich das merken. 1965 stellt Train ein Doppelquartett zusammen und nimmt das Free-Jazz Album "Ascension" auf. Die Kritiker sind fassungslos, wie man einen 40minütigen Orgasmus in Vinyl pressen kann. Der schwarze Dichter LeRoi Jones nennt ihn nun "Priester" und in einem Atemzug mit all den bösen schwarzen Männer, vor denen die weißen Vorstadtsiedlungen zittern.

Doch Coltrane kann ES immer noch nicht hören. Leider kann seine Band das nicht mehr hören und kündigt. Train versucht es mit zwei Bassisten, mit zwei Drummern und drei Saxophonisten. Er sucht den göttlichen Klang in indischen Ragas und orientalischen Skalen, in afrikanischer Polyphonie und verzehrender Intensität. Er bläst allein gegen Schlagzeugwände an und seine Soli werden mit jeder Aufnahme länger. Sie heißen "OM", "Meditation" oder "Interstellar Space", sie wucherten erst über Plattenseiten, dann über ganze Alben und Doppel LPs ins Nirgendwo. Als ihm immer öfter die Luft wegbleibt, stellte er den Kraftbläser Pharao Sanders ein, damit der Furor nur ja weitergeht. Sein letztes Album hieß "Expression". Kurz darauf fällt er einfach um.

Als Train am 17. Juli 1967 im Hospital von Huntington/Long Island im Sterben liegt, ist die Welt sehr sehr still. Die Beatles meditieren in Indien, Bob Dylan ist vom Motorrad auf den Kopf gefallen, Joseph Beuys verpackt einen Flügel in Filz und John Cage setzt sich vor ein Klavier und schweigt es exakt 4 Minuten und 33 Sekunden an.

Ich stelle ich mir vor, Frau Alice hat Trains Hand gehalten. Seine Augen sind groß und leer und starren an die weiße Wand. Durch das Jalousiegitter schiebt die Sonne flirrende Staubstreifen ins Halbdämmer. Nur aus dem Nebenzimmer hört man wie aus weiter Ferne ein Radio rauschen. Plötzlich peitscht ein elektrischer Tritonus-Intervall durch die Stille, genauer gesagt eine chromatisch erniedrigte Quinte. Musikwissenschaftler nennen sie Diablo in Musica, weil die Inquisition ihre Verwendung in religiösem Liedgut unter Androhung der Todesstrafe verbot. Train hört den Drummer pulsierende perkussive Strudel schlagen, während aus einem brodelnden Kessel klirrenden Krachs und dampfender Basslinien Gitarrenläufe in chromatisch erhöhten Noten aufsteigen. Es ist, als sähe er in einem magischen Spiegel das alte Coltrane-Quartett. Seine Männer sitzen in fliegenden Untertassen und tragen komische bunte Hüte und Anzüge, aus deren Ärmeln und Hosenbeinen Kabel, Wah-Wah-Pedale, und Vibratoarme baumeln. Mit Lichtgeschwindigkeit jagen sie über Länder und Kontinente, durch Stroboskopgalaxien und Rückkopplungsgewitter, um nach einem letzten kosmischen Röhren in Phil Spectors "Wall of Sound" zu verglühen

Dann hört Train eine Stimme:

"Purple Haze all in my brain
Lately things don´t seem the same
Actin funny, but I don´t know why
`Scuse me while I kiss the sky."

Train lächelt, DAS könnte ES gewesen sein. Zumindest wäre es ein schönes Ende dieser Geschichte. Doch John Ford-Fans wissen: Searchers never coming home. Jimi Hendrix, Noel Redding und Mitch Mitchell tragen die Fackel weiter bis Monterey. Die anschließende Tour ist schon nicht mehr ganz so experienced. Redding geht auf der Expedition ins Electric Ladyland verloren. Mitchell verliert bei den Electric Gypsies den Anschluss. Hendrix, der "an klaren Tagen ins Unendliche sehen" kann (Hendrix), verirrt sich schließlich irgendwo zwischen Woodstock und den Bandschleifen seines Studios Record Plant. Ausgebrannt und desorientiert kehrt er nach London zurück, weil er nichts gefunden hat außer ein paar großartigen Songs: "Ich habe einen über Abtreibung, einen über Vietnam, einen Song zu fast jedem Problem". Am Ende hat er nur noch Probleme, hält sich für einen Außerirdischen und "will seinen Bart wachsen hören". Aber selbst in diesem Zustand verliert er nie seine professionelle Würde. Als ihn zugedröhnte Rocker bei seinem letzten Konzert in Fehmarn mit Schmähungen überhäufen, bellt er ins Mikrophon: "Ist mir scheißegal, wenn ihr mich ausbuht - solange es die richtige Tonart ist". Hut ab.

Michael Quasthoff