Drei Märchen und das letzte

Das Märchen von der neuen Behutsamkeit

Es war einmal eine Zeit, da waren Männer noch aus Holz, und es war die Zeit, als jeder Krieg noch 90 Minuten dauerte, Fußballspieler aber für ihr mieses Gekicke keine Alibis hatten, sondern bloß Ausreden und als Handlungsbedarf und Erwartungshaltung noch Wörter waren, die niemand verstand, weil sie so häßlich klingen; und es war die Zeit, als im ICE- Bordrestaurant eine Anzahl verschiedener Gebäckstücke angeboten wurde, und Seufzen und Saufen sich immer noch nicht aufeinander reimten. Es war die Zeit, als alle Welt wußte, daß es kein richtiges Leben in Flaschen gibt, und als für eine Tragödie dieses Ausmaßes irgendjemand die Schuld tragen mußte. Es war die Zeit, als Soldaten noch Mörder waren. Die Zeiten ändern sich. Aber dafür ändern sie sich wieder. Wenn das jetzt alles gewesen ist, dann sitzen wir bis zu drei Jahren.

Ein zackiges Märchen

Es war einmal eine Säge, die auf die Erfüllung des Versprechens wartete, das in dem Satz lag: "Es kommt der Tag, da will die Säge sägen." Eines Tages kam der Tag. Ganz unspektakulär, auf leisen Sohlen sozusagen: Es war einer dieser diesigen Tag, verhangen, grau in grau, Hochnebel in weiten Teilen Norddeutschlands, aber niederschlagsfrei. Und die Säge sägte, daß es eine Lust war, sie sägte um und um. Was sie alles zersägte, kann hier gar nicht aufgezählt werden. Und als es dunkelte, meldete sich das Sägemehl zu Wort. Das Sägemehl sagte: "Sage mal, Säge, fühlst du dich jetzt besser?" Da sagte die Säge: "Sage mal, Sägemehl, wie kommst du denn da drauf?" Keine Antwort, Schweigen. "Da liegt kein Segen drauf", dachte das Sägemehl. Und so breitete sich eine nachdenkliche Stille aus über einem alles in allem eigentlich schönen Tag.

Glücksmärchen

Es war einmal ein Glücksspielautomat, der hieß Gloria. Neben ihr hing ein anderer Glücksspielautomat, der hieß King. Und so hingen sie mit zwölfer Dübeln gedübelt an der Wand einer Wirtschaft nebeneinander, King und Gloria, Gloria und King. Und das Einzige, was sich bewegte, waren die buntbemalten Rollen, die sich drehten, wenn ein Mensch ein paar Münzen in den Schlitz gesteckt hatte, und die Lampen der Start-, Stop- und Risikotasten, und die Lichter der Supergewinnchance und überhaupt war ein ganz respektables Geblinke zu beobachten, nicht zu reden von den elektronischen Melodiebruchstücken, die auf der akustischen Ebene ihr Teil dazu betrugen, daß eine Menge los war. King und Gloria waren trotz allem nicht glücklich, denn sie konnten zueinander nicht kommen. Gut, daß wir Menschen keine Glücksspielautomaten sind, denn so bleibt uns noch ein Stück weit Hoffnung auf Erlösung.

Das letzte Märchen

Es war einmal ein Märchen, das leider sehr genau wußte, daß es das letzte Märchen der Welt sein würde, daß also der Menschheit nur ein gewisses Quantum an Märchen zur Verfügung stünde, quasi in einer verqueren Anlehnung an Platons Ideenlehre nämlich irgendwo im Numinosen ein Urmärchen existierte, von dem alle Märchen abstammen, die sich die Menschen erzählen, demgemäß eine Erscheinungsform jenes Urmärchens bilden, daß es aber - und hier endet die Analogie zu Platons Ideenlehre und es öffnet sich der Widerspruch zum 1. thermodynamischen Gesetz - eben ein Ende haben wird mit dem Märchenerzählen, dergestalt daß das Urmärchen, das niemand je zu Gesicht oder zu Gehör bekommen hatte, nur über ein begrenztes Maß Energie verfügt, diese Energie sukzessive abgibt mit jedem Märchen, das sich die Menschen erzählen und erzählt haben im Laufe der Geschichte. Und das Märchen, das ich hier erzähle, spürte in seinen Genen die Botschaft, daß es das letzte aller Märchen sein würde. War das ein Grund, traurig zu sein?

Darüber dachte das Märchen lange nach, und während es darüber nachdachte, kam ihm ein Nebengedanke, ein an der Peripherie zu lokalisierender Gedankensplitter, der sich wunderbar instrumentalisieren ließ. Je länger es nachdachte, desto länger würde es dauern, dachte sich das Märchen. Würde es mit dem Nachdenken niemals aufhören, dann würde es, das letzte aller Märchen, niemals enden. Nur oberflächlich betrachtet war dies eine kluge Spekulation, denn das Märchen vergaß, daß es selbst in Zeit und Raum, in der Welt der Kausalität gefangen war, in einer Welt, wo irgendwo eine gleich vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde verborgen war.

Doch damit war das Märchen schon bei Schopenhauer, was wiederum eigentlich ein Grund zur Freude gewesen wäre, denn der Sprung von Platon zu Schopenhauer, der war schon nicht von schlechten Eltern. Aber weil die Welt nicht nur so ist, wie sie ist, längst zwar vom Kopf auf die Füße gestellt werden müßte, wenn man schon nicht mit dem Hammer philosophieren durfte, darum schlief das Märchen ermüdet von den Abstraktionen ein. Es träumte von Märchen und lauter so Sachen. Und wenn es nicht aufgewacht ist, dann träumt es bis heute abend oder morgen früh.

Dietrich zur Nedden

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