Brechts Daimler
Die Forschungsliteratur zu Brecht und seinem Werk ist umfangreicher als zu, um mit Karl Valentin zu reden, irgendwas anderem. Dennoch finden sich zuweilen stupende Erkenntnisse, mit denen niemand gerechnet hat, am wenigsten Brecht selbst. Nehmen wir beispielsweise das die Buckower Elegien eröffnende Gedicht "Der Radwechsel", das sich in Schullesebüchern findet und daher vielen nicht unbekannt sein dürfte:
Ich sitze am Straßenrand
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?
In schier geniöser Schlichtheit, haben wir vielleicht von der Deutschlehrerin vorgesagt bekommen, wird hier die Unbehaustheit des Menschen in der Moderne in eine Metapher gemeißelt, damit sich treffliche Aufsätze darüber schreiben lassen, wo man auch ganz viel von sich selbst, der eigenen Erfahrungswelt, dem eigenen Zerrissensein einbringen kann.
Kaum bekannt sind aber die tieferliegenden Motive, die Brecht veranlaßt, ja getrieben haben müssen, diese Zeilen 1953 zu schreiben. John Fuegis Buch "Brecht & Co." wirft mit einer Passage Licht ins Dunkel der Dichterwerkstatt, ohne daß Fuegi selbst den auf der Hand liegenden Zusammenhang hergestellt hätte. Länger als zwei Jahrzehnte muß Brechts Unbewußtes beziehungsweise Unterbewußtsein mit einer Begebenheit beschäftigt gewesen sein, die den Ledermann mit der Zigarre in einen Disput gezogen hatte, aus dem er, vertraut man Fuegis Darstellung, wie immer als Sieger, wenn auch nicht als moralischer, hervorgehen sollte.
Siebenundzwanzig Jahre, bevor die Verse vom Straßenrand Brecht so scheinbar mühelos aus der Feder flossen, nämlich im Sommer 1926 "traf Brecht Vorkehrungen, sich einen großen Wagen zuzulegen." Er, Brecht, bat einen Freund aus Augsburger Tagen, Herrn Otto Müllereisert, ihm ein Auto zu besorgen. Das nötige Geld sei auf dem Weg, versicherte Brecht, offensichtlich getreu der amerikanischen Redensart "The cheque's in the mail". Fuegi erwähnt zudem eine Argumentationsvariante Brechts, der versicherte, er, Müllereisert, bekäme das Geld von Helene Weigel.
Otto vertraute den Worten seines Freundes und kaufte einen Wagen, "einen riesigen gebrauchten Daimler britischer Fabrikation". Immer noch zögerte Brecht, erstattete "nicht den vollen Kaufpreis". Die Summe, die er schuldig blieb, belief sich auf 1600 Mark. Damals, als die Brötchen noch zwei oder fünfeinhalb Pfennig gekostet haben sollen (Fragen Sie Ihre Urgroßeltern), eine Menge Geld. Das alles würde noch keinen Subtext zum berühmten Gedicht ergeben, wenn der Daimler nicht auch noch eine "Panne" gehabt hätte.
"Wie sich herausstellte, gab es in Deutschland nur ganz wenige Werkstätten, die das britische Fabrikat reparieren konnten." Brecht, weder denkfaul noch einfallslos, nahm es eher juristisch, klagte bei Otto den Mangel ein, ignorierte beharrlich den geschuldeten Rest der Kaufsumme, vielmehr insistierte "jetzt auch, dass alle Reparaturen in Ottos Verantwortung fielen." Der Großstadtlyriker schickte seinem Kumpel aus Jugendtagen ein Telegramm: "Wann kommt Auto - Brecht". Eine klare, eine deutliche Botschaft, und die aufmerksame Leserin hat längst die Verbindungen hergestellt zum "Fahrer" des Gedichts, der nichts anderes sein kann als quasi eine, um es im Freudschen Terminus auszudrücken, Deckerinnerung an den Konflikt mit Müllereisert keine drei Jahrzehnte vorher und andererseits zum Schlußwort des Gedichts, das hier in der Biographie des Autors mittelbar bereits an zentraler Stelle auftaucht und somit quasi zum Leitmotiv wird.
Aber Otto war verbittert und schweifte ins Grundsätzliche ab: Ihre alte Freundschaft werde ruiniert "durch deine unzuverlässigkeit und nichteinhaltung von vereinbarungen". Der Kleinschreibung zum Trotz wurde er nicht kleinlaut, und immerhin "begann dieser Brief noch mit 'lieber bert' und schloß 'mit bestem gruß'."
Es folgten weiteres "Hin und Her" und "rätselhafte(n) Transaktionen über Helene Weigels Konto". Während Brecht auf Zeit spielte oder zumindest Besseres zu tun hatte als Schulden zu bezahlen, nämlich - mit wessen Hilfe auch immer - Gedichte schreiben und Theaterstücke, und sowieso an seiner Karriere zimmerte, hatte Otto die Schnauze voll, sein "Geduldsfaden" riß und überhaupt war das "Faß" übergelaufen: Grußlos eröffnete er seinen Brief der ultimativen Abrechnung mit den Worten "Damit du dich auskennst", und verwahrte sich gegen die "lächerliche Zumutung", "mir von Dir oder Frau Weigel mein Geld einteilen zu lassen". Zum Schluß brach er den "Stab" über Brecht und seine "D'Annunzio-Allüren", die er "von jetzt an" nicht mehr mitmachen wolle. "Dennoch versuchte er", weiß Fuegi in seiner Darstellung, "seinerseits die gegebenen Versprechen zu halten, und kümmerte sich noch um die Reparatur." Dennoch: die Freundschaft war für ihn, Müllereisert, zu Ende: "Du kannst Deine halbgerauchten Zigarren für dich behalten ... ich verzichte die Resultate einer fast 20jährigen Freundschaft bis zu Ende auszukosten. Es genügt für dauernd."
Schon recht, große Künstler und Schriftsteller müssen
nicht unbedingt gute Menschen sein. Noch müssen sie, könnten wir
daraus lernen, wenn wir noch zur Schule gingen, politisch oder moralisch
oder sonst wie korrekt handeln, auch wenn uns, dem Publikum, das manchmal
lieber wäre.
Aber wer weiß, vielleicht hatte Brecht die Geschichte längst
vergessen und wollte mit seinem Gedicht tatsächlich Unbehaustheit oder
Entfremdung oder was auch immer des Menschen in der Moderne metaphorisieren.
Je länger man darüber nachdenkt, umso wahrscheinlicher ist die
zweite Möglichkeit. Was ist eigentlich aus Müllereisert geworden?
Dietrich zur Nedden