Bruchstück einer kleinen Konfusion

Außer mir gibt es wahrscheinlich mehrere tausend Zeit- und vor allem Generationsgenossen, die irgendwann damals so mit sechzehn oder achtzehn übermütig ein bis zwei Stapel ihrer angeblich mühsam gesammelten Schallplatten verkauft haben, weil sie hundert Mark brauchten, um mit der Angebeteten nach Frankreich zu trampen, wo die hundert Mark in Rotwein, Baguettes und Camembert getauscht wurden.

Und eines Tages stehst du vor deinem Plattenregal und findest das Album nicht mehr, auf dem dieses eine Stück war, dessen Melodie dir heute pausenlos durch den Kopf schwebt.

Nehmen wir an, es handelt sich um "My Cup" von Bob Marley and the Wailers. Nicht daß ich ein Reggae-Fan in dem Sinne bin, nicht daß ich Cannabis für die ultimative Droge hielte, aber trotzdem, das Stück aus der frühen Frühzeit des Rastaman Vibrators, als das karibisch generierte Wummern sogar des Namens Reggae noch entbehrte, wollte ich unbedingt wiederhaben. Nicht nur hören (wo denn überhaupt?), sondern haben=besitzen, vermutlich deswegen, weil ich den simplen Song auf dem Universum-Plattenspieler mit Kristallnadel andauernd abspielte, nachdem die Angebetete nicht mehr von mir angebetet werden wollte. Scheiß Melancholie und der Weg dorthin. "My cup is running over/I don't know what to do". Es war auf einer Compiläischen-LP, die Reflection hieß, damals schätzungsweise keine acht Mark fünfundneunzig gekostet hatte, aber - dumm, dumm, dumm - partout nicht mehr zu kriegen war. Mehrere, wahrscheinlich etwa zwei Jahrzehnte gingen dahin, in denen ich genau das Stück auf keiner Marley-Zusammenstellung, war sie auch noch so billig, gefunden habe. Den Eifer, mit dem ich die Suche praktizierte, als fanatisch zu beschreiben, wäre gewiß übertrieben; ich schrieb nicht an die Marley-Fanclubs dieser Welt, noch fuhr ich nach Jamaica, noch inserierte ich in den entsprechenden Magazinen, aber gelegentlich kuckte ich doch unter Marley, Bob - nichts zu machen.

Neulich in der Drogerie, die ich adäquat wegen des Erwerbs einer Zahnbürste angesteuert und betreten hatte, stand zwischen Pampers und Kondomen ein CD-Regal, und darin eine Bob Marley-CD-Box. Drei CDs für zwölf fünfundneunzig. Und laut rückseitiger Titelliste war auf der zweiten CD als Stück Nummer elf "My Cup" drauf: "People, let me cry, cry, cry/People, let me cry, cry, cry/now I feel a little bit better". Es summte längst in meinen Ohren, der Bass tuckerte behende, der drei- oder vierstimmige Chor war längst da. Jetzt, man kann es sich denken, kommt der Knüller, die Sülze, das Superding und nebenbei auch das, was ich an Zufällen so liebe. Als ich zuhause die CD hineinschob in das Abspielgerät und die Start-Taste gedrückt hatte, kam als viertes Stück "My Cup", obwohl auf dem kärglich beschrifteten Cover "Make Up" als Titel stand. Und als Stück Nummer fünf folgte "My Cup", obwohl auf dem einsilbigen Cover "I've got to Cry" als Titel stand. Und die versprochene Nummer elf? "My Cup", exakt.

Vermutlich die Unaufmerksamkeit irgendeines Kopisten in irgendeinem Billiglohnland ist schuld daran, daß ich das Stück, nach dem ich mich so lange sehnte, aus Versehen dreimal auf einer CD besitze, die, wenn man die Inflation berücksichtigt, sehr viel weniger gekostet hat als der Träger meiner ursprünglichen Sehnsucht. Schade, daß Bob Marley das nicht mehr miterleben kann.

Dietrich zur Nedden

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